In der Schule wurde uns einmal eine Geschichte von einem Vogel vorgelesen. Er war klein und grau und fühlte sich vom Leben benachteiligt. Besonders litt er an der Winterfutterstelle, wo buntere Vögel immer besser gefüttert wurden. Er beschloss, sich gelbgrün anzumalen, damit er für einen Grünfink gehalten würde. Danach wurde die Geschichte in der Klasse in ihrer ganzen moralischen Tiefe ausgelotet. Obwohl ich, wenn es um Menschen geht, moralische Kategorien bedenke, konnte ich dies für Vögel nicht übernehmen. Ich weiß noch, dass ich dachte: Bunte Vögel finde ich aber auch schöner!
Wir füttern seit vielen Jahren Vögel, erst nur im Winter, inzwischen bis in den Sommer hinein. In den achtziger Jahren mit einem schlechten Gewissen, denn wir hatten gehört, dass man den Vögeln damit schade, sie sollten, bitte schön, selbst ihr Futter suchen, höchstens mal füttern, so hieß es, wenn eine dicke Schneedecke über mehr als zwei Tage liegt. Inzwischen lese ich mit Interesse in einem kleinen Büchlein Vögel füttern im Winter (Kosmos), empfohlen vom Naturschutzbund NABU, dass wir durch das winterliche Füttern seltenen Vögeln das Überleben sichern, und im Sommer darf man auch. Es wird nun in einer Weise empfohlen, die mein Herz zum Lachen bringt: „Direkt vor unserer Nase tummeln sich die verschiedensten Arten. Mit einem Fernglas ausgerüstet, lassen sich besonders interessante Verhaltensweisen beobachten.“ Genauso machen wir es. Das Futterhaus ist neben der Küche, keine zwei Meter vom Esstisch entfernt, und für die entfernten Vögel hängt ein Fernglas immer am Fenstergriff.
Besonders stolz bin ich auf etwas, was ich gar nicht beeinflussen kann: Wir haben eine große Auswahl bunter Vögel, und das mitten in der Stadt. Neulich war ich in der Domäne Dahlem spazieren. Einige der Häuser, die in der Straße Im Dol liegen, haben eine beneidenswerte Sicht auf die offenen Felder der Domäne. In einem Garten war ein Riesenvogelhaus angebracht, mit viel Vogelbesuch. Es waren ausschließlich Spatzen. Über zwanzig Spatzen wurden dort gefüttert! In dieser Gegend hätte ich Gäste vermutet, deren Bilder ich mir immer voller Sehnsucht im Vogelbuch angucke, ahnend, dass sie bei mir nie auftauchen werden: Dompfaff, Zaunkönige oder vielleicht sogar Spechte.
Wir haben eine Stammkundschaft von Blau- und Kohlmeisen, Grünfinken, Amseln und immer jeweils einem Rotkehlchen. Etwa drei Jahre lang kam eines mit einem zur Seite abgewinkeltem Bein, weswegen es hinkte. So weiß ich, dass es zumindest für einige Jahre immer dasselbe war. Der Nachfolger war größer und seine Brust eher orangefarben. An einem Frühlingstag etwa vier Jahre später, lag er tot im Hof. Wir verdächtigen Minou, die Katze, als Täterin. Am nächsten Tag war ein neuer da, etwas kleiner und zierlicher. Fast glaubt man, unser Futterhaus ist für sie Teil eines Reviers, indem nur eines allein leben darf. Das jetzige ist sehr anhänglich und begleitet uns. Bei Gartenarbeiten setzt es sich daneben und zwitschert einen an.
In Gruppen kommen Schwanzmeisen und Bartmeisen, aber nur für einige Tage. In vergangenen kalten Wintern gab es Gruppen von Polarbirkenzeisigen, Wintergoldhähnchen, Wacholderdrosseln, und einmal, zu Silvester, Seidenschwänzen. In den Jahren danach blieben sie aus. In einem Februar kam eine Schar von erst sieben Zeisigen, die dann bis in den kalten April blieb, bald waren es dreißig und sie vertrieben die Stammgäste. In einem Herbst kamen zur Überraschung drei Stieglitze, zwei von ihnen sind den ganzen Winter über geblieben, im nächsten Herbst blieben sie weg. Ich hatte vorher noch nie welche gesehen und seither auch nie wieder. Im nächsten Jahr beehrten uns zwei Kleiber. Bald glaube ich, es stimmt, was in den NABU Heftchen steht: Wir ermöglichen den Vögeln das Überleben, seitdem sie von Landwirtschaft und Zersiedlung aus ihrem natürlichen Zuhause vertrieben wurden. Von den großen Vögeln kommen Krähen und Elstern nie ans Vogelhaus, die dekorativen Eichelhäher aber gern.
Die Futtertheken werden von meinem Mann bedient: Es gibt Meisenknödel, gemischte Körner im Plastiksilo, welches auf unserer Augenhöhe im Flieder hängt. Für die Amseln und Drosseln gibt es immer etwas Weichfutter, zwischen den Körnern im Futterhaus, welches in der Nähe der Küchentür steht. Mein Mann hat ein Spezialrezept entwickelt. In einer großen Schüssel mischt er je 500g grobe Haferflocken, geschälte Sonnenblumenkerne, Erdnüsse (teilweise gehackt) und Rosinen. Dazu gibt er 100g Sonnenblumenöl, das er immer extra dafür kauft, weil es weniger kostet als Olivenöl. Das Öl wird von den Haferflocken aufgesaugt. Aber, um Sie rundum zu informieren: die Futterstellen müssen regelmäßig gesäubert werden, vor allem, wenn große Ringeltauben ihren Mist beim Futtern ablassen.
Die Nähe zur Küche bedeutet auch die Nähe zur Katze, Minou. Sie sitzt gern auf dem Küchentisch, die Vorderpfoten auf dem Fensterbrett, sodass im Winter die Wärme der Heizung ihren Bauch hochzieht. Wenn es Vögel zu sehen gibt, macht sie, leise keckernd, sehnsuchtsvolle Geräusche. Am Vogelhaus selbst hängt ein Schild: Vögel futtern verboten, welches sie aber übersieht. Dafür ist eine Sammlung Stöcke vor dem Vogelhaus so platziert, dass sie die Vögel nicht mehr erwischen kann, da der Weg im Sprung auf das Futterhaus zu weit ist. Vögel, die sie fängt, erwischt sie eher im späten Frühling irgendwo im Garten, wenn die Jungvögel das Fliegen erlernen. Minou nutzt solche Gelegenheiten skrupellos aus. Meist gelingt es, unter großem körperlichem Einsatz, ihr die Beute wieder abzujagen. Danach muss man dann noch für etliche Stunden ihre Verachtung ertragen, was wir inzwischen gelernt haben.
Mitten in der Stadt finden die Vögel Nistplätze. Bisher sehen wir das nur bei den Nachbarn, das ältere Enkelkind hat in seiner Kirsche einen selbstgebauten Starenkasten anbringen lassen, für den sich Meisen nun im Frühling immer einige Tage interessieren. Er wurde so gedreht, dass die Öffnung nach Südosten zeigt, das soll ihnen mehr zusagen. Wenn sie nisten sollten, müssten wir mit Stacheldraht einen Katzenschutz fabrizieren, wobei ich als Oma befürchte, die Enkelkinder könnten sich daran ritzen. Irgendwo gibt es jedes Jahr in der Nachbarschaft Vogelfamilien, meist bei Meisen, denen man zugucken kann, wie die kleinen mageren Eltern die dicker wirkenden Kinderchen füttern. In unserem Futterhaus machten es so schon Blaumeisen, Amseln und Spatzen mit ihren Jungen vor unserem Auge.