Rezension zum Buch Die Akte Glyphosat, wie Konzerne die Schwächen des Systems nutzen und damit unsere Gesundheit gefährden von Helmut Burtscher-Schaden.
Wussten Sie, dass deutsche Behörden zur Bewertung der Schädlichkeit von Substanzen nicht-öffentliche Studien der Industrie verwenden? Und denen mehr vertrauen, als veröffentlichten Studien unabhängiger Wissenschaftler? Und, wie 2015/16 zu Glyphosat geschehen, die deutsche Behörde BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) dies sogar für alle europäischen Staaten mitmacht? Ich auch nicht, und ich kann über meine eigene Naivität nur immer wieder staunen.
Aber der Reihe nach: Im Vorwort leitet der studierte Landwirt und Toxikologe Peter Clausing in die beiden Teile des Buches ein: Schon 1985 gab es in den USA einen Versuch von Wissenschaftlern, Lügen der Glyphosathersteller über dessen Unbedenklichkeit zu entlarven. Durch medienwirksame Darstellungen und Aktionen gelang es Monsanto, sie zu unterdrücken. Woher man das weiß? Seit etwa 3 Jahren sind in den USA durch Gerichtsbeschluss geheime Dokumente von Monsanto öffentlich zugänglich, jeder kann es nachlesen: Roundup (Glyphosate) Cancer Cases: Key Documents & Analysis
Schon diese Vorgeschichte liest sich wie ein Krimi. Im zweiten Teil geht es darum, wie es Monsanto 2015/16 gelang, auch die europäischen Behörden zu Lobbyisten für ihr Produkt zu machen. Für die nächste Runde der (Nicht)zulassung macht Clausing Hoffnung: in den letzten vierzig Jahren gibt es eine größere Anzahl von Umweltaktivisten und Wissenschaftler haben immer mehr Studien über verschiedene Aspekte der Schädlichkeit erstellt.
Was daraus jedoch in den Händen des BfR werden kann, soll dieses Beispiel zeigen; Es geht um die Genschädlichkeit von Glyphosat. Das BfR befand, dass „aufgrund negativer (negativ heißt hier: man hat nichts gefunden) Ergebnisse in der Mehrzahl … (der Tests) eine Klassifizierung von Glyphosat als ‚mutagen‘ nicht notwendig“ sei. Der Autor rechnete nach: von 61 Tests kamen 16 zum Schluss, dass es genschädlich ist. Und diese waren in den insgesamt 19, die unabhängige Wissenschaftler erstellt hatten.
Es reicht also, wenn man nur genug Geld hat, so viele Studien mit negativem Ausgang zu bestellen, dass es eine Mehrzahl ergibt. Und es finden sich genug Wissenschaftler, die diese Bestellungen erfüllen und Behördenvertreter, die mitmachen. Burtscher-Schaden drückt sich vornehm aus: “ … und möglicherweise auch illegitimen Formen der Beeinflussung durch die Hersteller ausgesetzt sein könnten.“
Nachdem ich das Buch las, verstand ich auch, warum unsere Landwirtschaftsministerin immer auf die sachgerechte Anwendung des Pflanzengifts abhebt: Der Gefahrenansatz wird durch den Risikoansatz ausgetauscht (hazard vs. risk). Industrienahe Wissenschaftler begannen in den USA damit, und auch das BfR bevorzugt den Risikoansatz. Erklärt wird dies mit dem Bild eines Löwen im Käfig: Wenn wir gar keinen Löwen in unserer Nähe wollen, so sagen wir, dass er eine Gefahr für uns darstellt. Wenn wir das Risikokonzept anwenden, dann sagen wir, nicht so schlimm, er sitzt ja im Käfig, und wer macht schon den Käfig auf? Allerdings fordert die europäische Pestizidverordnung den Gefahrenansatz. Diese Haarspalterei auf hohem Niveau ist also wichtig für industrienahe Politiker.
Vor dreißig Jahren war ich selbst politische Vorgesetzte einer Behörde. Damals waren Dienstaufsichtsbeschwerden ein gefürchtetes Mittel. Ob das heute auch noch so ist? Ich hab mal gegoogelt: Aufsicht über das BfR hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft inne. Das kann ja heiter werden. Ob man das mal versuchen sollte?
Es gibt im Buch auch Interviews mit langjährigen Beobachtern der Szene, die berichten, dass seit der Finanzkrise 2008 Politiker immer mehr an das Wohlergehen der Industrie (Arbeitsplätze!) denken, als an den Schutz der Bevölkerung vor Schadstoffen. Obwohl in Europa, im Vergleich zu den amerikanischen Ländern, wenig Glyphosat ausgebracht wurde, ermuntert der Toxikologe Clausing in seinem Vorwort, bei der kommenden neuen Runde im Europaparlament, für das Aus zu kämpfen, schon um Menschen in anderen Ländern Mut zu machen. Etwa den Argentiniern, bei denen seit fast 20 Jahren für die Produktion von Soja (für Tierfutter in Europa) Unmengen Glyphosat eingesetzt wurden und die Fehlbildungen und auch Krebserkrankungen schon bei Kindern erleben.
Mir ist bei der Lektüre Einiges klarer geworden. Gerade für angehende Wissenschaftler, die ihren Platz in der Gesellschaft noch suchen, ist es ein lohnendes Buch, aber auch ältere können ihren Blick schärfen!
Mehr Informationen
Autor: Helmut Burtscher-Schaden
Titel: Die Akte Glyphosat: Wie Konzerne die Schwächen des Systems nutzen und damit unsere Gesundheit gefährden
Erschienen: 1. September 2017
Verlag: Kremayr & Scheriau
Form: 256 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3218010856
Preis: 22,00 €
Vielen Dank für die gute Rezension! Wirklich ein Krimi. Aber leider schon irgendwie „normal“…