Seit gut zehn Jahren kann man wieder leckere Tomaten kaufen. In den Jahrzehnten davor hatte ich mir das Tomatenessen fast abgewöhnt, die geschmacklose Frucht, die unter dem Namen Hollandtomaten den Markt beherrscht hatte, war der Grund. Mein persönlicher Tomatentiefpunkt lag in den neunziger Jahren in Südfrankreich, als ich im September einen schönen Salat plante. Die richtige Jahreszeit dafür, dachte ich. Die einzigen Tomaten, die es beim Gemüsehändler im kleinen Ort gab, kamen aus Belgien und waren „Hollandtomaten“.
Inzwischen gibt es eine gute Auswahl das ganze Jahr über zu kaufen. Trotzdem habe ich den Ehrgeiz, selbst Tomaten zu ziehen und, bitte schön, im Überfluss zu ernten. Es liegt an meinen Kindheitserinnerungen, die durch einen Bücherfund im Antiquariat geweckt wurden: Johannes Böttners Gartenbuch für Anfänger. Meines ist die 11. Auflage von 1911. Böttner hat Tomaten im Brandenburgischen heimisch gemacht. Noch 1885, als er hoffte, diese Tomatenmode, die in England schon angekommen war, auch hier einzuführen, wurden die Früchte „als etwas Fremdartiges angestaunt“, man verweigerte sich, und sie mussten an Schweine verfüttert werden. Er bewarb Tomaten über Jahre, und erst 1903 gelang es bei einem Tomatenfest des Frankfurter (Oder) Gartenbauvereins, mit verschiedenen Tomatengerichten und Rezepten Interesse zu wecken.
Es dauerte also, der Preuße war zurückhaltend. Bekannter sind die Tricks Friedrich des Großen, dem es gelang, die Kartoffel, die ebenfalls aus Amerika kam, einzuführen. Er ließ sie anbauen und das Feld bewachen. Den Soldaten wurde aufgetragen, beim Erscheinen nächtlicher Kartoffeldiebe zu schießen, aber bitte in die Luft. So entstand ein nachhaltiges Interesse beim Volk an dieser wertvollen Pflanze. Man wollte sie haben, und sie setzte sich durch. Wahrscheinlich ahnte der Alte Fritz nicht, dass sie nicht nur sättigt, sondern mit ihrem Reichtum an Vitamin C die Menschen gut durch den preußischen Winter bringt.
Nun folgt ein Absatz, in dem ich Ergebnisse einer interessanten Stunde im Internet über Familie Böttner aufschreibe. Wer sich vor allem für Tomaten interessiert überspringt den Absatz am besten. Böttner sen. war stattlich, in meinem Buch gibt es neben dem Titel ein schwarz-weiss Foto von ihm als jungen Mann, mit einer Rose in seinen Händen, die er laut Unterschrift befruchtet. Dazu trägt er Anzug und Melone. Die Gärtner in den Abbildungen tragen oft Loden und meist einen Hut, Frauen dürfen in langen Röcken und Rüschenblusen auftreten. Böttner war ein erfolgreicher Pionier für Gemüse: Auch Rhabarber hat er in den Gärten Brandenburgs heimisch gemacht, den Erdbeer- und Spargelanbau verfeinert. Sein Sohn, Johann Böttner jun., übernahm 1911 den Frankfurter Betrieb. Er wurde später Mitglied der NSDAP und „Führer des deutschen Gartenbaus.“ Als die Zeitschrift des Vaters von „Praktischer Ratgeber“ 1935 in „Deutscher Garten“ umbenannt wurde, schrieb er im Geleitwort, die „Wiedergeburt nordisch germanischer Geisteshaltung“ suche Erfüllung im Garten. Allerdings hatte er später Differenzen mit dem Naziregime wegen seiner Freimaurerschaft. Beim Vater fällt auf, dass dieser für das Neue und Fremde aufgeschlossene Pionier, der aus dem Ausland Pflanzen einführte, seine Erdbeerzüchtungen mit Namen versah wie „Flandern“ oder einfach „Sieger.“
Erst vor gut hundert Jahren wurden Tomaten also bei uns eingeführt, Böttner beschreibt in seinem Buch genau, wie die Tomaten gezogen werden. Nach der „Aussaat 15. März, erstes Verschulen 27. März, zweites Verschulen 10. April, drittes Verschulen 24. April, viertes Verschulen 6. Mai, jedesmal mit entsprechend größeren Abständen. Von Mitte Mai ab werden nun die Pflanzen an die Luft gewöhnt und am 26. Mai etwa sind sie fertig, um mit vollem Ballen ins Freie gesetzt zu werden.“ Fertig heißt, dass sie 50 cm hoch sind.
In den fünfziger Jahren hatte meine Mutter sicherlich Ähnliches im Sinn: Sie säte, pikierte, und zweimal wurden die Tomaten umgetopft, bis sie nach den Eisheiligen in die Erde kamen. Mit ihren Ernten waren wir zufrieden, manchmal waren sie ergiebig. Dann gab es Tomatensuppe. Auch mein Stiefschwiegervater, ein diplomierter Gärtner, hatte in seinem Garten gute Erträge. Er schwor auf Dünger aus menschlichen Exkrementen und trauerte den Zeiten nach, in denen dieser leichter erhältlich war.
Meine eigenen Erfolge sind bisher mäßig. Ich ziehe aus Böttners Gartenbuch für Anfänger die Lehre, dass ich große Pflanzen kaufen und sie erst zwei Wochen nach den Eisheiligen einpflanze, vorher also im Topf lassen werde. Er betont noch, dass die Erde warm sein sollte. Den Teil über das notwendige Ausgeilen, also das Entfernen von Nebentrieben, habe ich richtig in Erinnerung gehabt. In anderen Büchern fand ich noch, dass alles, was ab August blüht, abgeknipst werden kann, da unser Klima nicht lange genug so warm bleibt, dass sie als Früchte ausreifen. Man kann sie zwar noch nachreifen lassen, aber sie schmecken dann nicht mehr. Wir Hobbygärtner müssen uns ja heute der Konkurrenz stellen, die auf dem europäischen Tomatenmarkt herrscht.
Bei der Tomatenpflege ist noch die Wasserzufuhr kritisch. Beim Zuviel platzen die Früchte, bei zu feuchter Luft gibt es Pilzkrankheiten. Ich beobachte, dass erfolgreiche Tomatengärtner in meiner Umgebung Kleiderkammern aus Plastik anfertigen, manche mit Reißverschluss, die die Pflanzen nicht nur im Frühling warm halten, sondern auch vor starkem Regen schützen. Leider beleidigen diese Säcke mein Auge. In der Zeitschrift Natur und Heilen habe ich einen Artikel über Homöopathie für Pflanzen gelesen. Eine Heilpraktikerin in Süddeutschland hat ihre Erfahrungen mit homöopathischen Mitteln bei menschlichen Patienten auf Pflanzen übertragen. Nach neun Stunden Regen gingen alle Tomaten ein, aber sie kann es durch geeignete Gaben (Thuja bei kaltem und Natrium sulphuricum bei warmem Regen) abwenden.
In einem Sommer war ich in einem Tomatenparadies: in Fargo, North Dakota, im Westen der USA. Die Freundin wollte für ein Familienfest im August so viele Tomaten wie möglich ernten. Es gab zwei Sorten und man konnte, nein, musste, täglich ernten. Zu zwei Dinnerparties für über zwanzig Personen und für eine Woche mit bis zu 10 Hausgästen waren reichlich Tomaten vorhanden. Und schmeckten, wie sie sollen, paradiesisch. Genauso soll es in meinem Garten auch sein!
Nun stehen die Tomaten im Topf auf der Terrasse unter dem Sonnenschirm, der bei Bedarf zum Regenschirm wird. Auf vier Pflanzen wuchs genug für eine Handvoll alle zwei Tage, einen Monat lang. Sie überzeugten, und ich fange an, mich für die einzelnen Sorten zu interessieren. Am besten bewährte sich die Sorte Harzfeuer und in Der Hauptstadtgärtner von Elisabeth Meyer-Renschhausen lese ich, dass Harzfeuer, in der DDR als unverwüstlich galt und daher sehr beliebt war. Regenschauer machen ihr weniger aus. Vielleicht pflanze ich im nächsten Jahr doch mehr als vier Pflänzchen…